Heute ist es also soweit. Ich gehe für eine Woche an Bord des Binnenschiffs MS Michaela.
Mittwoch war ich mit dem Eigner und Schiffsführer Christian (bisher dachte ich fälschlicherweise, dass auch die Binnerschiffbosse „Käpt’n“ heißen) zum Telefonieren verabredet, um herauszufinden, wo ich am Samstag zusteigen kann. Als „Partikulier“ ist er mit dem eigenen Schiff unterwegs und kriegt die Aufträge kurzfristig von einem Makler rein, weiß also nie, wo es nächste Woche hingeht. Als wir am Mittwoch telefonieren, zeichnete sich ab, dass der Samstag schwierig wird. Der Rhein hat gerade Niedrigwasser, und dann wird auch noch eine alte Brücke abgebaut, so dass er eine ungeplante Zwangspause einlegen muss, doch keiner weiß, wie lang genau. Sicher ist nur: Montag liefert er Hochofenschlacke nach Lixhe, das ist an der niederländischen Grenze, kurz unter Maastricht. Sicherheitshalber telefonieren wir Sonntag Abend nochmal, dann buche ich meinen Zug. Von Altona über Duisburg und Geilenkirchen bis nach Maastricht.
Dort muss ich eine Stunde auf den Bus nach Belgien warten und hole mir selbstverständlich erstmal eine Tüte der guten Friet Speciaal – Pommes mit Curryketchup, Majo und frischen, gehackten Zwiebeln. Schon die dreisprachigen Durchsagen im letzten Regionalzug haben mich glücklich gemacht: Niederländisch, Deutsch, Französisch. Und jetzt auch noch Friet Speciaal, in Maastricht – große Feelings für Europa.
Der Bus kommt nicht, obwohl er laut Anzeige in zwei Minuten verwacht wird. Dann verschwindet er wieder von der Anzeigetafel.
Ein älteres, sehr sympathisches Ehepaar, wartet auch. Es stellt ich heraus, dass sie nach Liège wollen, also Lüttich. Und perfekt Deutsch sprechen. Er hat in den Siebzigern sogar für eine kurze Zeit in Hamburg gelebt. Im Bus, der endlich doch noch kommt, erzählen sie von ihrer Weltreise, die sie gemacht haben, als sie noch junge Backpacker waren, über zwei Jahre unterwegs, in Pakistan, Indien und Japan. Sie fragen, was ich in der Gegend mache. Als ich erzähle, dass ich in Lixhe an Bord gehe, weil ich für meinen nächsten Roman recherchiere, sind sie Feuer und Flamme, da sie extrem literaturbegeistert sind – sie haben nichtmal einen Fernseher.
Trotz Masken und gebotener Vorsicht eine sehr belebende Zufallsbegegnung – ich hätte gerne noch weiter mit ihr, die bei einer Stiftung und als Fremdenführerin arbeitet und ihrem Mann, dem frisch verrenteten Postboten geplaudert. Sie haben dem Busfahrer netterweise gesagt, wo ich rausmuss, sonst wäre ich wohl mit ihnen bis nach Liège gefahren.
Ich stehe also in Lixhe, einem Kaff an der holländisch-belgischen Grenze. Dank der MarineTraffic-App kann ich erkennen, dass die MS Michaela inzwischen auf der anderen Seite des Kanals liegt, vor ein paar Stunden lag sie noch ganz in der Nähe der Bushaltestelle. Also muss ich noch eine halbe Stunde zu Fuß gehen, mit Rollkoffer, Rucksack und Proviant für eine Woche – Nüsse, Müsli, Tee und H-Milch.
Es gibt keine Bürgersteige, ich gehe eine Art Bundesstraße entlang, längst ist es stockfinster, aber ich muss über den Kanal, durch dunkles Industriegebiet. Von der Brücke aus sehe ich das Schiff schon bei der Zementfabrik liegen. Auf der anderen Seite steige ich glitschige Trampelpfade und Treppen herunter, gehe am Wasser unter der Brücke durch, und auch wenn hier alles tot ist, wird mir einmal mehr klar, welches Privileg es ist, als Mann unterwegs zu sein, völlig sorglos. Ich finde das alles spannend, so ganz allein im düsteren Niemandsland. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur naiv.
Und da liegt sie, die MS Michaela. Ich rufe an, Christian schickt seinen Sohn Michael. (Wer zuerst da war, Sohn „Michael“ oder Schiff „Michaela“ – das klären wir später.)
Diese Familie ist wirklich ein Recherche-Glücksfund: Vier Generationen Binnenschiffer, der Opa ist schon zu Kriegszeiten gefahren. Genau wie die Familie in meinem nächsten Roman.
Ich liebe mein Autorenleben. Und gehe an Bord.