Gestern, nach Ankunft, bringe ich Koffer und Rucksack in mein Zimmer und mache mich frisch. Dann betrete ich die Wohnräume der MS MICHAELA. Schiffsführer Christian und Sohnemann Michael haben es sich in einem überraschend geräumigen Wohnzimmer auf Sofa und Sessel mit Netflix gemütlich gemacht.
Ein Raum mit offener Küche, Tresen und Esstisch, auf dem gigantische Screen an der Wand ist das Pausenbild eines Films zu sehen. Es lässt sich am Fortschrittsbalken erkennen, dass der Film genau in der Mitte ist – ich komme mir vor wie ein Eindringling. Wir werden die nächste Woche auf engstem Raum verbringen.
„Ich will gar nicht groß stören“, sage ich, doch die beiden winken ab. Es gibt ein Begrüßungsbierchen und schnell ist der Film vergessen. Ich frage nach den Regeln an Bord.
„Du kannst Dich hier frei bewegen und in der Küche alles benutzen. Drinnen nur Hausschuhe, und wenn Du rausgehst, mit Weste. Und: Eine Hand gehört dem Schiff …„, sagt Michael – grinsend, weil dass das so ein Spruch ist, den er da sagt. Also immer irgendwo festhalten.
Die zwei erzählen aus der Binnenschifferwelt, in die ich für meinen nächsten Roman eintauchen möchte, und schon bald habe ich das Bedürfnis, alles aufzuschreiben. Sie wissen, dass ich für mein Buch recherchiere, dennoch frage ich sicherheitshalber nach, ob es okay ist, wenn ich mitschreibe, frage auch, was ich fotografieren darf („Alles, nur mich nicht, hehe“, sagt Christian) und muss die beiden gar nicht groß löchern. Schon am Telefon stellte sich Schiffsführer Christian als äußerst sympathischer Mann heraus, der gerne Anekdoten zum Besten gibt, die meine Schriftstellersynapsen direkt befeuern.
Für mich ist alles, was die zwei von sich geben, irrsinnig spannend, denn mir tut sich eine fremde, in sich geschlossene Welt auf, mit eigenen Begriffen und Werten. Hier kommt so vieles zusammen, was mich – vor allem für meine Geschichte – interessiert, das Norddeutsche, die selbstgewählte Einsamkeit, die Gemächlichkeit des Schiffs, die Gemeinschaft einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter, die (zumindest räumlich) enge Vater-Sohn-Beziehung, die Fortführung einer Tradition bzw. die NICHT-Fortführung – immer wieder ist die Rede von ehemaligen Kollegen, die „an Land gegangen“ sind, später auch vom anderen Sohn, der zwar noch fährt, aber auf der Kippe steht. Ist ja auch eine heftige Entscheidung: Vier Wochen Arbeit, vier Wochen Pause, und während der Arbeit nur der Mikrokosmos an Bord. Landgang zwischendurch höchstens zum Einkaufen, man liegt ja selten länger als einen Tag und immer nur in abseitigen Gebieten, wo nichts los ist. Kein Wunder, dass die meisten Binnenschiffer Kinder von Binnenschiffern sind. Christians Frau Helena ist sonst auch mit an Bord, doch sie muss sich gerade um ihre Mutter kümmern.
Am frühen Morgen (so gegen 5 Uhr) wird mit dem Löschen der Ladung begonnen, ich wache immer wieder auf, es vibriert und ruckelt, beim ersten Blick aus dem Fenster stelle ich fest, dass der Ausblick ein anderer ist, das Schiff also bewegt wurde. Irgendwann schlafe ich wieder ein. Als ich mir einen Tee mache und mich zum Schreiben nach oben an den Esstisch setze, fahren wir los. Ich freue mich wie ein Kind.
Im Laufe der Fahrt passieren wir drei Schleusen, und ich verbringe die Zeit mit den beiden ganz oben, auf der Brücke, die mit einer steilen Treppe mit dem Wohnraum unten verbunden ist. Endlich lerne ich auch den Bordhund Aaron, genannt „Killer“ kennen: Ein vierzehn Jahre alter Malteser, so gut wie taub. Als wir an einer der Schleusen warten müssen, geht Michael mit ihm an Land Gassi. Der Hund macht nicht an Bord, nur im allergrößten Notfall.
Die Brücke, von der aus das Schiff gesteuert wird, ist natürlich ziemlich chefmäßig: Ein hochkomfortabler Sessel von dem so mancher E-Sportler träumen würde, ein joystickartiger Steuerknüppel, Monitore, Radarschirm im Fußraum, und dazu lässt sich die gesamte Kabine noch absenken, damit sie unter bestimmten Brücken in Deutschland durchpasst.
Später, während Michael den Eintopf für das Abendessen vorbereitet, Suppenfleisch kleinschneidet, Linsen, Möhren und Kartoffeln kocht, unterhalten wir uns. Auch er hat Fragen, zum Schreiben, und ich freue mich, dass ich zur Abwechslung mal derjenige bin, der die Antworten geben kann. Ich erzähle ihm, was ein Lektor macht, und was ich als Motion Designer für Aufgaben habe. Michael ist ein sehr entspannter, aufgeschlossener junger Mann, dem das Binnenschifferleben wirklich liegt. Er findet den Arbeitsrhythmus 4 Wochen Schiff/4 Wochen zu Hause bei vollem Lohn großartig, und ich muss ihm zustimmen. Er muss nur das halbe Jahr arbeiten.
Später essen wir zu dritt oben auf der Brücke. Noch eine Schleuse, dann legen wir an für die Nacht.
Bis morgen sollten wir es nach Rotterdam schaffen.