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Bordtagebuch, Mittwoch, 17.11.2021

Es ist herrlich, aufzuwachen, aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, dass das Schiff schon fährt. Das gemütliche Tempo, Vater und Sohn, die ein eingespieltes Team sind und Humor haben, die niederländischen Funksprüche, Schiffsführer Christian, der in seinem Chefsessel ruht und das unglaublich lange Schiff mit 15 – 18 km/h sicher durch die Kanäle schippert. Links und rechts die vorbeiziehende Landschaft, hin und wieder ein Schleusenstopp, den Nachbarschiffen zuwinken – all das bringt mich so wahnsinnig gut runter und zurück zu mir.

Den verregneten Vormittag verbringe ich mit Schreiben. Diese Reise ist ja kein Urlaub – auch wenn die Arbeit Spaß macht. Um ehrlich zu sein: Schreiben fühlt sich für mich selten wie Arbeit an. Anscheinend habe ich da Glück, denn ich kenne viele wehklagende Kolleg:innen, denen die Arbeit an ihren Romanen aus mir nicht bekannten Gründen Schmerzen bereitet – das kann ich nicht nachvollziehen. Eigentlich jeder Aspekt der Arbeit als Schriftsteller bereitet mir Freude, zur Zeit zum Beispiel das Lektorat meines zweiten Romans. Mein Lektor und ich haben uns vor kurzem fünf Tage in ein Ferienappartement zurückgezogen, intensiv über den Text gesprochen und einen genauen Plan entwickelt. Nun habe ich zu jedem Kapitel meines Manuskripts eine kleine To Do-Liste: was noch fehlt, was zu viel ist, was ich noch herausarbeiten muss. Daran hangele ich mich während der Überarbeitung entlang, es ist fast wie Malen Schreiben nach Zahlen. Na klar, ganz neue Kapitel zu schreiben macht am meisten Spaß (auch das ist zwischendurch immer wieder dran), aber mir gefällt auch das Knobeln, Tüfteln und Umstellen, ich liebe es, nochmal und nochmal über den Text zu gehen, wie bei einem Werkstück aus Holz, das am Ende vollendet glattgeschmirgelt Auge und Hand schmeichelt.

Da wo sonst das Gehirn ist

Als die Sonne rauskommt, gehe ich hoch auf die Brücke, und dann das erste Mal an Deck. Glücklicherweise sind Schwimmwesten heutzutage keine Marshmallowmännchenoberteile mehr, sondern so Popup-Würste, die sich ruckartig aufblasen, sobald man ins Wasser fällt. Eine Tablette löst sich dann sofort auf, und eine unter Druck stehende Feder jagt einen Bolzen in die CO2-Katusche, sodass die Weste sich innerhalb von Sekunden zuverlässig aufpumpt. Ausprobieren möchte ich es aber im November trotzdem nicht. Christian zeigt mir, wie ich die Weste anlege, und sagt: „Wenn Du über Bord gehst, immer Richtung Land schwimmen, nie zum Schiff. Ich schick Dir dann ein Taxi.“

Ich war während meines Zivildienstes im Seemannsheim Bremen täglich auf Hochseeschiffen im Bremer Hafen – aber noch nie auf einem Binnenschiff. Jetzt erst verstehe ich, warum die Regel „Eine Hand gehört dem Schiff“ durchaus ernst zu nehmen ist. Man will hier wirklich nicht freihändig langspazieren, die Verschanzung ist nur etwas über kniehoch, an manchen Stellen gibt es nichtmal ein Geländer. (Wieder was gelernt: „Reeling“ sagt man nur in der Seeschifffahrt)

Die MICHAELA ist ein sogenannter Schubverbund, also eigentlich zwei aneinandergekoppelte Schiffe, der vordere Teil ist der Schubleichter, kann theoretisch auch alleine fahren, wird aber vom Motor, dem hinteren Hauptschiff, geschoben und eigentlich nur beim Löschen der Ladung abgekoppelt. Der Verbund ist zusammen über 170m lang – viel länger geht es auch nicht auf den hiesigen Wasserstraßen, wegen der Größe der Schleusen in Deutschland und den Niederlanden. Die meisten Binnenschiffe sind eher um die 80m bis 90m lang. Ich bin also eine Weile unterwegs bis zum Bug. Auf der Hälfte, da wo der Verbund gekoppelt ist, treffe ich Michael. Wir liegen gerade fest, weil wir auf die Öffnung einer Zugbrücke warten müssen. KILLER wird an Land gelassen und erledigt sein Geschäft.

Killer hüpft an Land und nutzt die Zeit.

Michael stellt mich Pavel vor. Er ist einer der zwei Arbeiter, die mit an Bord sind, seit bald acht Jahren. Er und Bartosz teilen sich eine Wohnung auf dem vorderen Teil, dem Schubleichter, und so habe ich sie bisher noch nicht zu Gesicht bekommen – oder nur von weitem ihre Warnjacken auf Deck aufblitzen sehen. Auch sie fahren alle vier Wochen für einen Monat in die Heimat. Dann kommen zwei andere Kollegen aus Polen, und Michael tauscht mit seinem Bruder Henning. Schiffsführer Christian bleibt mit Killer an Bord, er macht nur im Sommer und Weihnachten Urlaub.

Als es weitergeht, bin ich ganz vorne – allein. Die Sonne scheint, ein laues Lüftchen weht, und mein Körper wird mit Endorphinen geflutet. So gut habe ich mich seit vielen Wochen nicht gefühlt. Die Pandemie hat auch mich schließlich kleingekriegt, lange habe ich stoisch alle Einbußen hingenommen, den Lockdown, die ausgefallene Buchpremiere, die abgesagte Lesereise und selbst die unwiederbringlich verlorenen Debütantensalons, zu denen ich eingeladen war – Debütant ist man schließlich nur einmal. Und als gerade Hoffnung aufkeimte und wir immerhin zum Taschenbuchrelease von Charlie eine Premierenfeier in Berlin nachholen konnten … ich muss niemanden mit dem aktuellen Pandemiegeschehen – made by Impfverweigerern – langweilen. Nur so viel: Ich war wütend. Ich habe hässliche Dinge über Impfgegner gesagt, ich konnte zum ersten Mal nachvollziehen, warum sich Menschen während der Pandemie radikalisiert haben – ohne es gutheißen zu wollen. Aber jetzt stehe ich am Bug der MS MICHAELA und liebe das Leben wie lange nicht.

Ich nehme ein glückliches Selfie auf und schicke es in den Familienchat, damit meine Lieben daheim wissen, dass es mir besser geht.


Und dann kommen wir in Rotterdam an, und im Abendlicht sieht alles aus wie gemalt.