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Bordtagebuch, Donnerstag, 18.11.2021

Gestern Abend lange gelesen, endlich mal wieder ein gutes Buch, bei dem man sich schon aufs Weiterlesen am nächsten Tag freut. Ist das nur bei mir so selten geworden? Ich musste in letzter Zeit drei Bücher in Reihe weglegen, zum Glück habe ich das inzwischen gelernt. Das Leben ist zu kurz, um sich durch langweilige Bücher zu quälen.
Als es morgens mit dem Verladen der riesigen Drahtrollen aus Indien losgeht, schaue ich einmal kurz auf der Brücke vorbei, lege mich aber bald wieder hin. Irgendwie war ich noch nicht ganz mit Schlafen fertig. Lange lesen, lange schlafen – ein bisschen Urlaub ist dann doch angesagt. Vor allem, weil wir ja im Hafen liegen und heute nicht mehr viel passiert.

Walzdraht aus Indien, den wir ins Stahlwerk nach Lübbecke fahren

Auf der anderen Seite des Wassers kann man etwas vom fancy Rotterdams sehen, moderne Gebäude, Cafés, Wassertaxis – wenn wir hier den ganzen Tag liegen, könnte ich ja … vielleicht sogar mit einem Wassertaxi …?
Aber Michael winkt ab: „Vergiss es – das ist der Fluch der Schiffer. Ich bin schon so oft in Köln gewesen. Aber die Stadt habe ich noch nie gesehen.“
KILLER darf immerhin zum Pinkeln an Land, ich nicht. Im Hafen herrschen strengste Sicherheitsvorkehrungen, der Wachdienst würde mich nicht vom Gelände lassen. Aber das wusste ich vorher, ich habe ja keine Kreuzfahrt gebucht.

Killer darf an Land, ich nicht

Die Staplerfahrer bringen den aufwickelten Draht an die Hafenkante, der Bagger-/Krahnfahrer puzzelt die tonnenschweren Rollen passgenau ins Schiff, im Hintergrund schwimmen riesige Kräne und Bananendampfer vorbei. Ich muss an AT-AT-Walker aus STAR WARS und die Sentinels aus MATRIX denken – und immer wieder an die Sach- und Lachgeschichten von der Sendung mit der Maus.
Erst wird der Schubleichter beladen, genannt Bak. Dieser niederländische Begriff für „Kübel“ oder „Behälter“ ist mir sehr vertraut. Da meine Schwiegermutter aus den Niederlanden kommt, benutzt auch meine Frau hin und wieder ein paar holländische Vokabeln, und der Plastik-Wäschekorb heißt bei uns zu Hause auch Bak.

Nach ein paar Stunden wird der Verbund verholt (also „umgeparkt“), jetzt liegen wir mit dem Motor, also dem Hauptschiff, an der Kante und werden beladen. Für die Crew ist eigentlich Pause, nur Schiffsführer Christian muss nebenbei aufpassen, dass das Schiff gleichmäßig beladen wird.
Wir trinken Ostfriesentee auf der Brücke, mit Kluntje und Sahne, wie ich es vom ostfriesischen Teil meiner Familie kenne. (Wobei den beiden Schiffern aus Haren an der Ems selbstverständlich wichtig ist, dass sie KEINE Ostfriesen sind!) Den guten Tee an Bord hat aber tatsächlich mal ein Ostfriese eingeführt, und für mich ist es ein Flashback. Nachmittags Teepause mit meiner Mutter, mit dem guten Tee von Otto Norman, unserem Verwandten aus Ostfriesland – dieser Teil meiner Kindheit ist mir nach ihrem Tod schleichend abhanden gekommen. Ich nehme mir vor, mich wieder auf meine Wurzeln zu besinnen, mir in Hamburg vernünftigen Ostfriesentee zu besorgen und das Stövchen und die Tasse mit dem Zwiebelmuster aus dem Schrank zu holen.
Dann hat Christian Feierabend und holt im Wohnzimmer die Tretmühle aus der Ecke, ich verziehe mich nach unten in mein Zimmer, um zu schreiben.

Die Sport- und Entertainmentabteilung an Bord

Irgendwann beginnt es lecker zu riechen. Michael brutzelt etwas für’s Abendessen, die Hafenarbeiter verladen noch immer Drahtrollen, doch für uns ist der Tag so gut wie rum. Und leider auch schon die halbe Woche, denke ich. Liebend gerne würde ich einen ganzen Monat mitfahren. Aber ich hoffe, ich kann im Frühling und im Sommer nochmal an Bord gehen.

So, gleich ist’s geschafft