(Für den Outtake „Der feine Herr Brackmüller“ aus „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ bitte herunterscrollen)
Ich liebe es, in meinen Büchern Easter Eggs für Freunde unterzubringen – Charlie ist voll davon, schließlich habe ich große Teile meiner Jugend für das Buch ausgeschlachtet, und einige meiner Wegbegleiter:innen dürften den ein oder anderen Spezial-Gag verstanden haben. Einer, bzw. drei dieser versteckten Grüße fielen leider den Kürzungen zum Opfer, die ich nach Abgabe des Manuskripts unternehmen musste. In der ersten Fassung gibt es nämlich noch einen Nachbarn, der auch gleichzeitig der Vermieter von Familie Berg ist: Den lieben Postboten Herrn Brackmüller. Und dieser hat ein dunkles Geheimnis, das mehr mit Charlies Leben zu tun hat, als er ahnt … er klaut und hortet nämlich die Post fremder Menschen in großen Mengen. Mayra, zu Besuch aus Mexiko, riecht Lunte, und so beschließen Charlie und sie eines Tages, den Nachbarn zu beschatten.
Die Figur Brackmüller musste vollständig gestrichen werden, damit konnten 120 Seiten eingespart werden. Und mit Herrn Brackmüller verschwand leider auch mein kleiner Gruß an die drei Menschen, die Charlie bzw. meiner Karriere auf den Weg geholfen haben:
Mein Freund und Lektor Matthias Teiting, der mit wertvollem Feedback meiner ersten Leseprobe den letzten Schliff verlieh und mich als alter Branchenhase von Beginn an auf meinem Weg in die Literaturwelt „coachte“ und dies bis heute tut. Ich hoffe wir verbringen noch viele Lektoratsreisen gemeinsam – für Charlie sind wir 4 Tage nach Vlissingen ans Meer gefahren. (siehe oben, bei der Arbeit.)
Lucy Fricke, die ich damals noch gar nicht kannte, die aber netterweise Kontakt zu zwei großen Agenturen herstellte.
Elisabeth Ruge, die meine Agentin wurde und mir ebenfalls immer mit Rat und Tat und Hundebildern zur Seite stand und steht.
Und hier das gelöschte Kapitel mit den Easter Eggs für die drei Personen:
Der feine Herr Brackmüller
Es war noch kälter als gestern, unangenehm kalt, ich wäre lieber sofort zurück ins Bett gekrochen. Auch die Mexikanerin fröstelte in ihrer viel zu dünnen Jacke, hielt sich selbst umarmt, pustete ihren kondensierenden Atem in die Luft und bedachte die kleinen Wölkchen mit einem skeptischen Blick. Als wir die kleine Treppe hoch auf den Bürgersteig traten, kam Herr Brackmüllers Duftwolke aus seiner Tür, dicht gefolgt von ihm selbst. An den Hosenbeinen, die aus dem Trenchcoat ragten, erkannte ich seinen Mittwochsanzug. Er besaß für jeden Wochentag einen. Nonno hatte sie ihm vor Jahren im Austausch für einen Mieterlass geschneidert, alles Modelle, die nie modern gewesen waren und inzwischen, bei aller Zeitlosigkeit, gerade noch als tragbar durchgingen. In seiner Hand wie immer der Aktenkoffer aus cognacbraunem Leder. Herr Brackmüller war, auch wie immer, frisch rasiert. Sein After Shave, Old Spice, trug er wie einen dicken Schutzpanzer – von ihm selbst war so gut wie nichts zu erkennen. Er legte es sogar im Büro nach der Arbeit frisch auf. Mir entging dennoch nicht, dass er zum Feierabend gerne in einer Kneipe einzukehren pflegte, den fettigen, zigarettenschwangeren Geruch der Lokalität und seinen notdürftig mit Mundwasser kaschierten Alkoholatem konnte ich überdeutlich lesen, wenn ich ihn am Abend zufällig vor unserer Tür antraf und er grußlos in seine Wohnung schlich, als habe er mich nicht gesehen.
„Guten Morgen!“, strahlte er uns entgegen, „So früh schon wach?“
Mayra sah weg und schwieg fröstelnd, ich sah zu ihr und hatte eine Idee.
„Herr Brackmüller, sie schickt der Himmel!“
Vielleicht konnte er uns ja doch noch helfen. Ich zog die beiden gefalteten Formulare aus der Innentasche. „Könnten Sie uns eventuell einen riesengroßen Gefallen tun?“
Er konnte. Als wir wieder oben waren und ich Tape CHA10 heraussuchte, sagte Mayra: „Der Typ ist doch nicht ganz sauber, da kannst du mir erzählen was du willst.“
Jetzt ging das wieder los.
„Was habt ihr alle gegen den alten Brackmüller? Rita kann ihn auch nicht leiden, Nonno geht ihm aus dem Weg so gut es geht, und als ich neulich auf der Post seinen Namen erwähnte, ist das gesamte Postamt in Gelächter ausgebrochen.“
Mayra sprang auf und zog ihre Jacke wieder an.
„Weißt du, wie er zur Arbeit fährt?“
„Ich denke mit dem Bus, wieso?“
„Komm, wir verfolgen ihn. Mit dem stimmt was nicht, ich sag es dir. Wie der geguckt hat, als du ihm die Formulare gegeben hast.“
Die Bushaltestelle lag zehn Fußminuten von der Sudergasse entfernt, in der Ortsmitte. Hier war es für Piesbacher Verhältnisse einigermaßen geschäftig, Menschen gingen zum Bäcker, kauften Zeitungen am Kiosk, warteten auf den Bus. So auch Herr Brackmüller, wie wir aus sicherem Abstand auf dem Roller sitzend erkennen konnten. Als sein Bus kam und Brackmüller einstieg, folgten wir ihm die ganze Route über die Dörfer durch den Arbeitsverkehr, bis nach Leyder. Brackmüller verließ den Bus wie erwartet an der Station „Hauptpostamt“. Ich hielt mit laufendem Motor in einigem Abstand.
„Und jetzt?“, fragte ich Mayra über die Schulter.
„Warte“, klang es dumpf aus dem Helm hinter mir.
Er steuerte auf das Hauptpostamt zu. Und ging daran vorbei. Mayra sprang ab.
„Park irgendwo!“, rief sie, hielt mir ihren Helm hin und nahm die Verfolgung auf.
Wir folgten ihm auf der anderen Seite der Hauptstraße, vorbei an Geschäften, die alle noch geschlossen hatten, die Teiting-Allee hinunter, über den Fricke-Platz, schließlich kam der Elisabeth-Ruge-Park in Sichtweite. Dies schien Brackmüllers Ziel zu sein. Wir hielten Abstand, versteckten uns hinter Stromkästen und in Hauseingängen, nicht auszumalen, wenn er uns jetzt entdecken würde. Ohne sich umzusehen betrat er den ummauerten Park durch den Haupteingang. Mit seinen zahlreichen Büschen bot die Parkanlage besseren Schutz, in geringem Abstand folgten wir ihm geduckt. Ich musste an Kalle Blomquist und die drei Fragezeichen denken und kam mir reichlich lächerlich vor, wie wir hier Detektiv spielten. Brackmüller ging zielstrebig der Ostseite des Parks entgegen. Hier gab es weniger freie Rasenfläche, die Wege waren enger und von Rhododendron gesäumt, und dann dämmerte mir, wo er sich so zielstrebig draufzubewegte. In dieser Ecke des Ruge-Parks befanden sich die Rosenbeete.
„Er geht bestimmt vor der Arbeit noch mal an den Rosen schnuppern“, flüsterte ich Mayra zu. Vor einem Rondell mit den letzten noch blühenden, weißen Rosen standen drei Bänke, Herr Brackmüller ging daran vorbei, direkt zu den Rosen, wog einen Blütenkopf in der Hand, beugte sich vor und zog ihn sich mit geschlossenen Augen sanft an die Nase.
„Brackmüller ist absoluter Rosenfreak, du kennst doch seinen Vorgarten.“
Ich sah Mayra an. Sie beobachtete ihn weiter durchs Gebüsch. Ein gegenüberliegender Weg führte fort von dem runden Beet, auch dort stand eine Bank, auf die Brackmüller nun zuging. Er wischte mit einem Stofftuch, dass er aus der Hosentasche holte, kurz darüber bevor er sich niederließ. Den Aktenkoffer legte er vorsichtig neben sich ab, so als würde er Meißner Porzellan darin transportieren, dann zückte er eine Papiertüte und begann, mit Brotstückchen zu werfen. Sofort versammelte sich eine Taubenschar um ihn, und es begann ein Spiel: Er hielt ein besonders großes Brotstück am ausgestreckten Arm und ließ die mutigste Taube im Flug das ganze Stück greifen. Das wiederholte er einige Male, doch dann zog er jedes Mal, wenn sich einer der Vögel näherte, im letzten Moment den Arm weg, immer wieder. Die Tauben flatterten aufgeregt hin und her und zankten sich, sein Arm wechselte ruckartig von links nach rechts, nach oben, nach unten, bis er das Stück Brot schließlich hoch in die Luft warf und dem Vogel, der es aus der Luft fing hinterhersah.
„Wieso sitzt er hier in Seelenruhe?“, fragte Mayra leise. „Wie spät ist es?“
Ich hielt ihr meine Uhr hin.
„Kurz nach neun. Vielleicht sein Ritual, bevor er zur Arbeit geht.“
Die Sonne kam gerade raus und wärmte uns, ich wollte trotzdem nach Hause.
„Wann fängt man in Deutschland an mit der Arbeit?“
„Bei der Post? Keine Ahnung, er ist Schreibtischtäter, um neun, halb zehn?“
Als seine Papiertüte leer war, zerknüllte er sie zu einem festen Ball. Er zielte sehr sorgfältig, die Papierkugel zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, ließ den Unterarm so hin- und herwippen, dass seine Hand auf der Luftlinie zwischen rechtem Auge und dem Ziel blieb, drei, vier, fünf Mal, schließlich warf er zackig Richtung Mülleimer, der in etwa drei Meter fünfzig Entfernung am Wegesrand stand. Er traf nicht.
Sein Arm sackte enttäuscht herab. Er hielt einen Moment inne, dann griff er in seine Mantelinnentasche und holte etwas heraus. Papiere. Unsere Formulare. Er warf einen Blick darauf, las sich alles ganz genau durch, sowohl meine als auch Mayras Version. Dann zerknüllte er beide zu einem ebenso festen Ball wie zuvor die Papiertüte und wiederholte den Zielwurf. Beide landeten im Mülleimer. Mayra wandte den Kopf und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie gab mir einen Stoß und winkte, dann ging sie geduckt los, hinter den Büschen entlang, ich folgte ihr. Das war wirklich nicht nett von Herrn Brackmüller. Aber was wollte Mayra noch sehen?
Wir kamen bis auf wenige Meter an ihn heran. Von schräg hinten konnten wir nun beobachten, wie er ein belegtes Brot aus einer weiteren Papiertüte hervorholte und es genussvoll verspeiste. Dieser Tüte widerfuhr das gleiche Schicksal wie der ersten und unseren Formularen, auch dieses Mal traf er. Zufrieden rieb er sich die letzten Krümel von den Händen und nahm nun den Aktenkoffer auf die Knie.
Wir stellten uns auf die Zehenspitzen um in den Koffer sehen zu können. Was machte er hier? Ging er in Ruhe ein paar Akten durch, bevor er sich ins Büro begab? Oder frühstückte er hier? Begann er jeden Arbeitstag so? Es war inzwischen 9:20 Uhr, es war ihm jedoch keinerlei Eile anzumerken. Er ließ die Schnallen des Koffers exakt gleichzeitig aufschnappen, da ertönte Geschrei. Wir duckten uns. Eine Gruppe Kindergartenkinder näherte sich und blieb schließlich mitsamt ihren zwei Erzieherinnen am Rosenbeet stehen. Herr Brackmüller schloss den Koffer und legte ihn wieder neben sich auf die Bank. Er nickte der Gruppe freundlich zu, winkte sogar.
Die Kinder schnupperten eines nach dem anderen vorsichtig an den Rosen, Herr Brackmüller stand auf und gesellte sich zu ihnen. Er hielt einen kleinen, kindgerechten Vortrag über die Rosenart, wusste, wie die Sorte hieß und wer sie wann für wen gezüchtet hatte. Die Kinder hörten einigermaßen interessiert zu, die Erzieherinnen forderten sie auf, sich zu bedanken, dann zog die Gruppe weiter. Er sah ihnen, die Hände hinterm Rücken verschränkt, lange hinterher. Wir duckten uns vollständig und hörten ihn auf dem Kiesweg zur Bank zurückkehren. Erst als erneut das Klacken der aufschnappenden Verschlüsse zu hören war, richteten wir uns vorsichtig wieder auf.
Wir sahen den geöffneten Koffer auf seinem Schoß. Er war voll. Aber nicht mit Akten oder Frühstück, nicht mit Büchern oder Zeitungen. Er war voller Bierdosen. Halbe-Liter-Dosen. Sie füllten den Koffer nahezu perfekt aus, fünf nebeneinander, zwei quer darüber, links oben in der Ecke blieb eine Lücke, doch die war ebenso effizient ausgenutzt wie der restliche Platz: eine Flasche Old Spice und ein kleines Fläschchen mit einer mintgrünen Flüssigkeit – vermutlich Mundwasser – füllten den verbleibenden Platz aus.
Herr Brackmüller entnahm eine Dose, stellte sie neben sich ab, schloss den Koffer, legte ihn zurück auf die andere Seite der Bank, dann nahm er die Dose, tickte mit dem Fingernagel drei Mal auf den Dosendeckel und riss sie auf. Er trank einen langen Schluck, studierte das Etikett wie ein Gutachter und atmete dabei geräuschvoll aus. Es klang nicht nach Genuss, eher, als habe er Schmerzen. Es war 9:27 Uhr. Wir hatten genug gesehen. Der feine Herr Brackmüller war ein arbeitsloser Alkoholiker, der vortäuschte, zur Arbeit zu gehen. Jetzt rülpste er, dann ließ er einen kleinen, knallenden Pups fahren. Mayra prustete los.
Wir schmissen uns auf die Erde, robbten wie Einzelkämpfer in Hochgeschwindigkeit hinter den Büschen entlang bis wir hoffentlich außer Sichtweite waren, Mayra sprang auf und verschwand in einer Hecke, ich hinterher, wagte nicht mich umzusehen, wir kamen auf dem seitlichen Weg des Parks wieder heraus und rannten so schnell wir konnten, und dass das nicht besonders lange gut gehen konnte, war klar. Schon nach wenigen Metern musste ich innehalten. Mayra bemerkte es, hielt an, verlor ihr Lachen, kam zurück und fasste mir an den Arm. Eine kleine, blutige Schramme verzierte ihre linke Backe. „Cha-Cha, alles in Ordnung?“
„Nein“, sagte ich und sackte auf die Knie, der Anzug war eh hinüber, sie sackte mit. Ich hielt mir den Brustkorb. Der Schraubstock war wieder da, ein böser Schmerz verhakte sich in mir und wollte gar nicht wieder loslassen, die uns umgebende urbane Botanik schlug mir wie ein Hammer in die Nase. Mayra legte mir ihre Hände auf die Backen.
„Cha-Cha, hiergeblieben, ich brauche dich noch.“
Old Spice und Dosenbier boxten sich durch die grünen Gerüche des Parks zu uns herüber, prallten aber glücklicherweise an Mayras Bukett ab und kamen auch nicht näher, nur der Duft der Kamschatka-Rose verwob sich mit ihr, die Wärme ihrer Hände durchströmte mich, langsam ließ der Druck auf meiner Brust nach. Als ich einen Fuß aufsetzte um mich zu erheben schnellte sie in die Höhe und zog mich mit beiden Händen hoch.
„Wie recht du hattest“, sagte ich zu Mayra und blickte mich um.
„War nur so ein Gefühl. Ich kenne solche Typen. Leider.“
„Hat er uns gesehen?“
„Ich weiß es nicht.“
Sie hakte ihren Arm bei mir ein und führte mich Richtung Ausgang. Beim Überqueren des Fricke-Platzes ging es schon besser, ich wollte aber trotzdem nicht losgelassen werden. Als wir vor der Simson standen fragte ich sie: „Kannst du fahren?“
Mayra setzte sich vorne auf den Roller und hielt grinsend die Hand für den Schlüssel auf. „Ich dachte schon, du fragst nie!“
Als sie losfuhr, viel zu schnell, ich hinter ihr sitzend, meine Arme um sie geschlungen, die Helme verfluchend, die meine Nase in ihrem Nacken verhinderten, zeigte ich ihr ärgerlicherweise den kürzeren Weg nach Piesbach, rechts raus, über den Kreisel, durch den Wald.
Die Schranke zum Faunichoux-Herrenhaus war wieder da, der Weg hinauf auf den Kuckucksberg bereits mit Lichterketten dekoriert, in weiter Entfernung glaubte ich im Vorbeifahren die Gräfin zu erkennen, wie sie einigen Handwerkern Anweisungen gab, die gerade ein Banner spannten.
Sera.
Mayra.
Die eine kannte ich fast mein halbes Leben lang, wenn auch überwiegend per Video, die andere kannte ich gar nicht, doch hatte sie innerhalb weniger Stunden eine Schneise in mein Leben schlagen können, die seit Jahren nur langsam wieder zuwuchs. Als wir an der Auffahrt zum Waldhaus vorbeifuhren verlangsamte Mayra, drehte sich um und rief: „Ob die cuicos inzwischen weg sind?“
„Keine Ahnung, ich rufe nachher mal bei der Kommissarin an, ob der Tatort freigegeben ist.“
Tatort?
So schnell konnte es gehen, ich musste besser aufpassen.
„Die Salamanderin? Irgendwie cool, die Frau.“
„Ja, ich glaube auch, die macht ihren Job ganz gut.“
„Die wollte dich am liebsten mit nach Hause nehmen, oder?“
„Sie schläft mit ihrem Kollegen.“
„Echt? Mit dem kleinen Deppen? Ich wusste es!“, lachte Mayra und gab wieder Vollgas.